Beschwerliche Zeiten; Eine kleine Fiktion aus der Vergangenheit
„Verflixt!“, rief er aus, als er sich seinen Schädel am Rahmen des Führerstandsfenster anschlug. In doppelter Bedeutung schlagartig war er nun wieder wach und zog blitzschnell fast gleichzeitig die Lokbremse an, den Regler bei und legte die Steuerung wieder aus.
"Ziemlich hart beigekommen, Kleiner,": murmelte Karl der alte Heizer in seinem unverwechselbaren Gebrabbel und drehte den Bläser etwas auf, nachdem er den Injektor abgestellt hatte, um das Wasser im Kessel wieder ein wenig nachzuspeisen. Jetzt als es darauf ankam hier in Gleis 10 im „Ostbahnhof“ in Opladen an die Wagen beizufahren, war Heinrich wohl kurz vor lauter Müdigkeit weggetreten. Die Standzeit im Ausziehgleis war wohl etwas zu lang geworden.
"Der junge Meister hatte wohl vor die Kisten gleich leer zurück nach Frankreich zu drücken, was?", rief dann noch der „schöne Eberhard“, ihr Rangierer nach oben, als dieser in Höhe des Führerstandes vorbeikam. Er ergänzte aber noch immer grinsend, dass die Abfahrt nicht vor der Planzeit erfolgen würde.
Heinrich wollte gerade ansetzen Karl die Nachricht zu übermitteln, da fand er diesen schon auf seinem Hocker der „Elberfeld 4008“, einer im Jahre 1899 von Henschel gebauten G5.1 sitzend mit geschlossenen Augen vor. Ein kurzer Rundblick über den Führerstand des gutmütigen preußischen Arbeitstiers, das seine besten Tage schon hinter sich hatte, bestätigte ihm das sowohl genügend Wasser im Kessel als auch das Feuer für die anstehende kurze Ruhezeit auf das Beste gerichtet waren.
Hübsch hässlich war die Beule an seiner Stirn bestimmt, das konnte er fühlen, als er vorsichtig mit den Fingern darüberstrich. Hübsch hässlich auch die ganze Woche schon. Bis er nachher zuhause sein würde, hatte er dann schon wieder etwas über 59 Stunden Dienst geleistet. Wenn er darüber nachdachte, wunderte er sich nicht mehr darüber das er hier einfach eingenickt war. Dieses ganze Jahr war schon eine verrückte Zeit, in der nicht nur die Inflation galoppierte, sondern die Ereignisse in Politik und Gesellschaft sich einfach überschlugen und man kaum mit dem Nachdenken hinterherkam.
Aus Ermangelung eigener Bilder aus der beschriebenen Zeit hier und im folgenden ein paar Bilder der POSEN 2455, einer von LHW - Linke-Hofmann-Werke Aktiengesellschaft in Breslau im Jahr 1919 unter der Fabriknummer 1804 gelieferten Lokomotive. Immerhin sind diese Bilder aus Bochum Dahlhausen auch schon wieder fast zwanzig Jahre alt.
Trotz britischer Bedenken besetzten zum 11. Janur zunächst fünf französiche und eine belgische Division die Kohleproduktionsstätten des Ruhrgebietes wegen eines Liferverzuges Deutschlands. Die Regierung des Reichskanzlers Cuno reagierte umgehend mit einem Aufruf an das Volk, indem der „Gewaltstreich" angeprangert, die untrennbare Einheit von Volk und Staat beschworen, zur Besonnenheit und dann zwei Tage später zum „passiven Widerstand“ aufgerufen wurde. Die Abfuhr von Reparationsgütern kam praktisch zum Erliegen. Gerade mal 3 -5 tägliche Kohlenzüge konnten noch aus dem Essener Direktionsbezirk in Richtung Westen abgefahren werden. Dieses veranlasste die Besatzer wiederum Anfang März zu einer vollständigen Abriegelung vom übrigen Reichsgebiet und zur Übernahme des Eisenbahnbetrieb unter eigener Regie im besetzten Gebiet. Südlich der Ruhr kam es schon im Februar zur Verlagerung militärischer Einheiten in einen schmalen Streifen um den britischen „Kölner Brückenkopf“, um diesen wegen des regen gestiegenen Warenverkehres gegen das unbesetzte Reichsgebiert abzusperren.
Der Britsche Brückenkopf in der Besatzungszeit mit den Grenzstationen.
Im Personenverkehr durch Pass- und Gepäckkontrollen und im Güterverkehr durch widerrechtlich erhobene Zölle, sowie Beschlagnahmungen von Gütern und Fahrzeugen wurden dadurch alle Verkehrsrichtungen erheblich behindert. Im Bereich der Direktion Elberfeld wurden Bahnhöfe wie Vohwinkel, Lennep, Bergisch-Born, Hückeswagen, Ründeroth und Overath zu stark bewachten Grenzstationen. Opladen war als große Station nebst dem wichtigen Ausbesserungswerk durch die von hier in Richtung Bergisch-Born, Vohwinkel und Düsseldorf verlaufenden Strecken stark betroffen.
Er hatte teils mulmige Gefühle seine Dienste verrichten zu müssen, gerade auch zwischen April und Juni als es vermehrt zu Sabotageakten auch auf die Bahn kam, was natürlich auch zu starken Strafen der Besatzer führte, aber letztlich die Attentate nicht verhinderte. Nächstes Jahr wird seine Zeit im Lokfahrdienst vorbei sein. Mal sehen, wie das weitergeht und ob die Reichsbahn als Staatsbetrieb oder privates Unternehmen bestehen bleiben soll und vor allem wie sich das auf seinen nächsten Laufbahnschritt zum Reichsbahninspektor auswirken wird?
Erst Ende September hatte sich die Lage durch die Aufhebung der Grenzblockade der Besatzer zum 16. Sep und die Beendigung des „passiven Widerstand“ (26. Sep.) durch die neue Regierung unter Gustav Stresemann zumindest hier in der preußischen Provinz Rheinland etwas beruhigt. Nur die vielen Aufstände im Oktober und November in Küstrin, Aachen, in Sachsen und Bayern zeigten die Unruhe und wer weiß, ob die Einführung der neuen Rentenmark und diese ominösen Expertengruppen der Reparationskommission eine Besserung herbeiführen können. Zumindest wurden nun die weitgehenden Restriktionen schon einmal gelockert. Aber mal aufgewacht aus den müden Gedanken.
Bis dahin galt es aber diese fast grenzlastige Fuhre an diesem nasskalten Morgen des 17. Dez. mit leeren Kohlewagen, die so gut rollen würden wie eine Kette flachgelegter Ziegelsteine nach Vohwinkel zum Rangierbahnhof hinaufzuprügeln. Karl kümmerte sich wieder weiter um den Aufbau des Feuers und wohlgezielt landete Schaufel um Schaufel, die Kohle in der Feuerbüchse. Die Luftpumpe arbeitete ruhig und zuverlässig und ihr gleichmäßiges Klack, Klack gab der Lokomotive gewissermaßen Ihren Herzschlag, während sie den Hauptluftbehälterdruck nach der erfolgten Bremsprobe langsam wieder auf die achteinhalb atü brachte. Immerhin war ein beträchlicher Anteil der Wagen schon mit Druckluftbremse ausgestattet, was die Sache heute Nacht etwas vereinfachte.
Karl speiste gerade ein wenig Wasser nach, denn die Sicherheitsventile begannen schon zu säuseln. Er wärmte die Zylinder ein wenig vor, indem er bei leicht geöffnetem Regler die Steuerung vor und zurück legte und den Dampf über die Zylinderentwässerungsventile entweichen lies. Der Dampf verflüchtigte sich gerade rechtzeitig als er erst das Zittern in den Drahtzugleitungen bemerkte, dem scheppernd die Flügel des Ausfahrtsignales folgte und den Weg nach Ohligs frei gab.
Literatur- und Quellenangaben
- - Peter Krüger: Deutschland und die Reparationen 1918/19 - Stuttgart : Dt. Verlags-Anstalt, 1973. - ISBN 3-421-01620-8
- - ...schwer genug wird es uns ohnedies schon gemacht“- Taschenbuch; BoD – Books on Demand, ISBN: 9783833441486
- - Ursula-Maria Ruser, „Die Reichsbahn als Reparationsobjekt“, Freiburg, Eisenbahnkurier Verlag, 1981; ISBN: 3-88255-881-4
- - Kurt Kaiß, Michael Peplies, "Der Samba - Die Stichbahn Elberfeld-Cronenberg", Leichlingen 2007, Verlag Kaiß, A, ISBN: 3-9806103-6-5
- - Kurt Kaiß, "Das Eisenbahn-Ausbesserungswerk Opladen - Bd. 1 - 1903-1945", Leichlingen 2006, Verlag Kaiß, A. ISBN: 398093571X
Bundesarchiv, Onlineaufrufe vom 22.07.2023
Nr. 95 Vermerk des Staatssekretärs Hamm über den Eisenbahnverkehr im Ruhrgebiet. 11. März 1923
Nr. 122Denkschrift des Ministerialrats Kempner zur Reparationsfrage. 15. April 1923
Erhöhung der Löhne der Eisenbahnarbeiter April 1924
https://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/0pa/ma1/ma11p/kap1_2/kap2_166/para3_1.html
Bildnachweis: Bilder vom 30.10.2005 Bochum Dahlhausen, Karte erstellt von Michael Peplies